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Was nicht passt?

…wird passend gemacht. –

Immer wieder werden wir in Rollen oder Schubladen gesteckt, in die wir eigentlich gar nicht wollen und auch nicht gehören. Aber trotzdem findet man sich dort wieder. So geht es mir zumindest.

„Das schafft ihr nicht.“ „Das ist zu viel zu schwer.“ Was? Das willst Du wirklich machen?! Das klappt sowieso nicht.“ „Total idiotisch. Bescheuert. Viel zu kompliziert. Warum tust Du Dir das an?“ „Du hast doch gar keine Zeit.“

Wie oft im Leben hört man diese oder ähnliche Aussagen von Mitmenschen? Wie oft spricht diese kleine innere Stimme zu uns, gerade deutlich genug, um sie zu hören:

Die Anderen haben Recht. Das ist viel zu schwer! Lass es ein. Das klappt sowieso nicht. Sei nicht blöd. Mach Dich nicht lächerlich. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht.

Ich zumindest kann diese kleine innere Stimme in vielen Situationen hören. Deutlich hören. Gerade in Bezug auf oder mit Evan. Es passiert blitzschnell, eine Sekunde nicht aufgepasst und schon steckt oder sitzt man in einer Schublade. Bei Menschen mit einer Behinderung dauert es sogar nur 0,5 Sekunden. Entweder wird Evan überschätzt oder unterschätzt. Sein wirklicher Ist-Zustand wird dabei häufig – fast immer – nicht berücksichtigt.

„Was? Ihr Junge ist 5 und kann nicht sprechen! Er ist behindert. Oh, okay! „Kutschiguuu Blääää.“

Und schon wird gewechselt – in die Babysprache. Entweder das Eine oder das Andere. Überdurchschnittlich intelligent oder dumm. Wann haben wir verlernt einen Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, so anzunehmen wie er ist und was er ist? Ihn weder zu verurteilen noch zu bemitleiden? Ich kann mich nicht davon freisprechen. Auch wenn sich mein Blick im Laufe der Zeit verändert hat, passiert es mir immer noch, dass ich einem behinderten Menschen zu schnell zu wenig zutraue. Sehr oft, eigentlich immer, werde ich eines Besseren belehrt.

Mit 3 sollte ein Kind dieses können, mit 4 muss er/sie in der Lage sein jenes zu können und mit 18 macht er/sie dann Abitur. Danach? Wird studiert! Ganz klar. Alternativ? Vielleicht eine vernünftige und sichere Ausbildung abschließen. Und wenn er/sie andere Pläne hat? Kommt nicht in Frage. Ich weiß was gut für mein Kind ist! Aber wissen wir das wirklich immer am besten? Jedes Elternpaar wünscht sich das Beste für sein Kind. Davon bin ich überzeugt. Aber sind die eigenen Wünsche immer die Besten? Geht es nicht vielmehr darum sein Kind zu unterstützen, die eigenen Träume zu realisieren. (Wenn das ein Studium oder eine sichere Ausbildung ist umso besser.)

„Keine Angst Frau Becker., ihr Sohn kann auch mit dem Herzfehler Abitur machen.“

Wie bitte? Abitur? Scheiß auf Abitur. Hauptsache mein Kind lebt – waren meine Gedanken. Heutzutage leben wir mehr und mehr in einer Welt, in der der Wert eines Menschen und sein Stellenwert in der Gesellschaft meistens nach seiner wirtschaftlichen Leistung bewertet wird. 8 Jahre nach dem Gespräch mit dem Kinderkardiologen frage ich mich, welchen Platz wird mein kleiner Michel in so einer Welt haben? In den Vergleichsgesprächen “Was kann mein Kind“ wären wir definitiv ziemlich weit hinten. Aber wissen Sie was? Das ist mir egal. Total egal. Evan muss nichts mit dem Erreichen eines bestimmten Alters können. So Evan, jetzt bist Du 8 und genau jetzt musst Du Deinen Namen buchstabieren können. Vorwärts und rückwärts. Dabei solltest Du, wenn möglich, auf einen Bein hüpfen und gleichzeitig Deinen Kopf streicheln. Könnte er, würde Evan mir genau in diesem Moment den Vogel zeigen (mit 8 Jahren). Zu Recht. Selbstverständlich wünsche ich mir von Herzen, dass mein kleiner Michel in der Lage sein wird, ein selbstständiges Leben zu führen. Ob und wie er sein Leben führen wird bestimmt allerdings Evan. Ich kann ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten unterstützen aber das Tempo liegt bei ihm. Ganz nebenbei, das Abitur wirkt neben einem chronisch kranken Kind äußerst lächerlich. Fast schon wie eine Witzfigur. (Schade, dass ich das nicht schon während meiner Abi-Prüfungen wusste).

Das schafft ihr nicht. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Ich bin dabei diese Wörter aus unserem Vokabular – nein, aus unserer Welt – zu streichen. Wenn wir Lust haben, dann laufen wir im Sommer mit offenen Schuhen und verschiedenen Socken herum oder vielleicht auch ganz ohne Schuhe und nur in bunten Socken. Wenn wir Lust haben, spielen wir “Old Mc Donald had a Farm“ an der Kasse in unserem Supermarkt, begleitet von unserer Gitarren-Klobürste und Bratpfanne. Wenn wir Lust haben, kombinieren wir einen Pünktchen-Pullover, eine viele zu kurze Hose und eine Streifenstrumpfhose. Wenn wir Lust haben, mieten wir uns einen Bulli und fahren damit quer durch Europa und machen Urlaub. Wenn wir Lust haben, nehmen wir um 17 Uhr noch eine Stunde Autofahrt zu unserem Lieblingsplatz in Kauf, nur um für 10 Minuten den Sonnenuntergang zu beobachten. Wenn wir Lust haben, laufen wir einen Halb-Marathon zusammen – ich laufe und Evan sitzt in seinem umgebauten Hilfs-Sportbuggy, inklusive Kikaninchen, dem grünen Gummibär, Bert und seiner Gitarren-Klobürste.

Evan und ich lassen uns nicht von Grenzen beschränken, die uns andere – fremde – Menschen auferlegen wollen. Wir sind wer wir sein wollen. An einem Tag vielleicht ein bisschen mehr Pippi Langstrumpf und am anderen Tagen ein bisschen mehr Michel aus Lönneberga. Aber immer wir selbst.

Lasst Euch nicht unterkriegen. Habt Mut. Seid wild und frech und wunderbar. Lasst Euch nicht in Schubladen stecken, in die ihr nicht wollt. Nehmt keine Rollen an, für die ihr nicht vorgesprochen habt. Niemand sollte aufgrund (s)einer Behinderung ausgegrenzt werden oder entmutigt werden, bestimmte Dinge in seinem Leben zu erreichen. Dabei geht es nicht immer um die gefährlichsten oder waghalsigsten Erlebnisse. Manchmal sind es “Kleinigkeiten”, die wir uns im Alltag nicht zutrauen oder vor denen wir Angst haben. Ich glaube ganz fest daran, dass wir alles schaffen können was wir wollen und wir die sein können, die wir sein wollen. Ich möchte, dass Evan mit dem Gefühl und einer Selbstverständlichkeit groß wird, dass er alles schaffen und erreichen kann was er will. Ein Orchester, eine Philharmonie, bestehend aus Klobürsten, Bratpfannen, Fliegenklatschen und Handfegern. Warum nicht? Das es Mültonnenmusik gibt hätte früher auch niemand geglaubt.

Natürlich gibt es Grenzen, die auch wir nicht überwinden können – zumindest bis jetzt. Das macht mich oft traurig und wütend. Aber das ist okay. Es gibt Alternativen. Anstatt mit dem Flugzeug in fremde Länder zu fliegen, reisen wir mit dem Bulli durch Deutschland. Mit genügend Mut und Enthusiasmus (und viel positiver Energie) erreichen wir hoffentlich Spanien. Wenn nicht, dann bleiben wir halt an der Nordseeküste. Ich glaub an uns. Seid wer immer ihr sein wollt. Und denkt daran:

Was nicht passt, wird passend gemacht.

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