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Die anderen Tage.

Die anderen Tage. In diesen anderen Tagen macht mein kleiner großer Michel es mir schwer. Ihm fehlen die Worte. Stattdessen kommen Hände, Beine oder der Mund zu Gebrauch. Es ist schwer, zu ertragen. Ich habe das Gefühl ich zähme ein wildes Tier. Versuche es, zu beschwichtigen. Möchte es weder dressieren noch konditionieren. Aber manchmal soll/muss er auf mich hören. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch und habe mir immer vorgestellt meinem Kind auf Augenhöhe zu begegnen, um zu erklären. Liebevoll zu erziehen. Stattdessen muss ich an diesen anderen Tagen, versuchen mich zu schützen. Uns zu schützen. Kurz den Raum verlassen. Einmal tief durchatmen. Evan kann sein Verhalten sehr schlecht bis nicht steuern, dieser Tatsache bin ich mir bewusst. Aber trotzdem möchte man nicht gehauen, gebissen oder getreten werden. Das macht etwas mit einem. Auch mit einer Mutter. Evan sieht nur seine eigenen Bedürfnisse. Versteht nicht, dass ich auch welche habe. An diesen besagten anderen Tagen mutiere ich zum Monster. Schreie lauter als Evan und muss fürchterlich dabei aussehen. Selfie? Nein, danke! Versuche ruhig zu bleiben. Es nicht, persönlich zu nehmen. Anstatt liebevoll bestimmt zu erklären, muss ich mit Kraft dagegen lenken.

Die anderen Tage. Ich finde dieses Thema sehr schwierig. In Deutschland. Generell schwierig. Viele denken darüber nach aber nur wenige sprechen darüber: Über eben genau diese anderen Tage. Letztes Wochenende, während eines schlechten Tages, in einer schlechteren Stunde, wollte ich mir ein wenig Mut anlesen. Ich habe mich mit einem leckeren Latte Macciato auf mein Sofa gesetzt und meine vorher errungenen – sorgfältig ausgesuchten und teuer bezahlten – Eltern Zeitschriften dazu geholt. Da saßen wir nun, mein Latte Macciato, die Eltern Zeitschriften und ich

(Evan war im Badezimmer unter der Dusche – jedes Mal, wenn ich eine kleine Pause brauche, drehe ich die Dusche auf und siehe da: Evan steht schon bereit. Wie David Hasselhoff am Strand von Venice Beach, nur etwas niedlicher. Evan natürlich. Unser Wasserverbrauch ist enorm).

Gleicht geht es mir etwas besser. So wie mir, geht es bestimmt einigen Eltern – waren meine Gedanken. Nach der ersten Eltern Zeitschrift war ich ein wenig deprimiert. Nach der zweiten war ich frustriert und nach der dritten habe ich geheult. Wie ein Schlosshund. Artikel wie „Wir ernähren uns nur noch mit Bio Produkten und kochen jeden Tag ultrafrisch bis hin zu „die Wohnung neu sortiert in nur 100 Schritten“ haben meine Launen oder meine vorübergehende Depression nicht verbessert. Was, die haben noch Zeit jeden Tag 2x biofrisch zu kochen und ihren Kleiderschrank nach farblichen Mustern sowie den Rest der Wohnung zu ordnen und sortieren?!!! Jetzt war ich wirklich am Ende. Oh, ein Interview habe ich übersehen. Von Eltern mit einem behinderten Kind. Jetzt wird gleich alles besser. Leider nicht. Das Interview war ein Zusammenwurf von positiven Wörtern. Alles gut. War nie besser. Überfordert oder erschöpft habe ich leider nicht gefunden. Auch nach intensivster Suche.

Es macht etwas mit einem an seine Belastungsgrenze zu kommen. Auch mit einer Mutter. Gerade mit einer Mutter. Ich bin eine tolle, liebevolle und geduldige Mutter. An vielen Tagen. Aber es gibt auch diese anderen Tage. Da bin ich am Limit. Balanciere auf einem Seil und bin oft davor abzustürzen. Manchmal tue ich das sogar. Irgendwie schaffe ich es immer wieder aufs Seil und balanciere mich aus. Falle wieder runter und stehe wieder auf und klettere mit letzter Kraft und meinen letzten Reserven erneut aufs Seil. Für Außenstehende muss es lächerlich aussehen. Die gibt einfach nicht auf! Warum lässt sie es nicht einfach?! Die fällt doch sowieso immer wieder runter. Stimmt. Aber jedes Mal komme ich etwas weiter. Nur ein Stückchen. Aber ich komme weiter und gebe nicht auf. Irgendwie schaffe ich es immer und immer wieder auf das Seil.

Warum ist das Muttersein immer eng mit Schuldgefühlen verknüpft? Darf man als Mutter keine Grenzen haben? Muss man immer alles geben müssen? Jeden Tag bis an Limit gehen und dabei noch ultrabiofrisch kochen und den Kleiderschrank sowie die Wohnung nach Mustern sortieren? Früher war der Gedanke, dass es diese anderen Tage gibt, fürchterlich für mich. Tage, Stunden oder Minuten, an denen mir alles nicht so leichtfällt. Ich habe mich für meine Gefühle und Emotionen geschämt. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich habe ein behindertes Kind. So etwas darf ich doch nicht denken. Ich muss Evan jeden Tag aufs Neue äußerst liebenswert und zuckersüß finden. Mittlerweile weiß ich, dass ich auch mal sauer sein darf. Ihn vielleicht auch mal doof finden darf. Sowie er mich hin und wieder auch mal doof findet (er sagt es zwar nicht, aber ich merke es deutlich. Sehr deutlich).

Es tut mir gut, zu explodieren und meine Wut herauszuschreien. Jeder Mensch hat seine Grenzen. Auch eine Mutter. Die Grenzen eines Menschen sind sein persönliches Hoheitsgebiet. Innerhalb dieses Gebietes muss jeder Mensch für sich selber bestimmen was in Ordnung ist und was nicht. Ich habe meine Grenzen. Evan hat und braucht seine Grenzen. Jeden Tag fordert er 101% meiner Aufmerksamkeit. Leider verfüge ich nach meiner Arbeit, dem Haushalt, dem Organisieren meistens noch über 60%. Mal sind es etwas mehr, mal etwas weniger. Wir werden 60% zu 101%? Gar nicht. So einfach ist das. Früher habe ich über meine Kapazitäten gelebt. Körperlich und emotional. War bereit auf dem Schwarzmarkt die restlichen 41% zu kaufen. Heute? Würde ich dafür kein Geld mehr ausgeben. Mittlerweile nehme ich diese anderen Tage samt Gefühlen und Emotionen dankend an. Dankend? Ja, dankend. Nach der Nacht kommt der Tag. Nach dem Regen kommt die Sonne. Ohne Regen würde es keine wundervollen Blumen geben. Manchmal muss man sich kurz oder auch etwas länger doof finden, damit man sich im nächsten Moment wieder sagen/zeigen kann, dass man sich ganz toll findet. Ich bin eine tolle Mutter. An den guten und ganz besonders an den schlechten Tagen.

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