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Immer noch kein Kreis.

Ein Dreieck passt nicht in einen Kreis: Ein Thema, welches mich schon seit langem beschäftigt. Nicht das Dreieck, nicht der Kreis. Sondern muss das Dreieck in den Kreis passen? Ich fühle mich oft nicht der Gesellschaft zugehörig. Wir sind das Dreieck und die Gesellschaft ist der Kreis. Besser gesagt, Evan ist das Dreieck. Ich bin etwas dazwischen. Ich bin formbar, mal bin ich mehr Kreis mal bin ich mehr Dreieck – aber immer so dehnbar, immer so flexibel beides sein zu können. Evan? Evan ist ein Dreieck. In manchen Momenten schafft er es kurz ein Kreis zu sein, um gleich im nächsten Moment in seine alte Form zu wechseln: dem Dreieck.

Was ich damit sagen möchte? Muss oder sollte ein behindertes Kind sich anpassen, um gesellschaftsfähig zu sein? Und wenn ja, in wie weit? Vor ein paar Jahren hätte ich diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Ich habe großen Wert darauf gelegt, dass Evan so sein kann wie er ist. Dass er sich genauso entfalten kann wie sein Wesen es ihm vorgegeben hat. Heute würde ich diese Frage nicht mehr so klar und eindeutig beantworten können. Eine Tatsache möchte ich an dieser Stelle aber ganz klar betonen:

Evan ist ein toller Junge genauso wie Gott ihn geschaffen hat. Ich liebe Evan so wie er ist. Für mich ist er perfekt unperfekt.

Nichtsdestotrotz merke ich immer mehr, umso älter Evan wird, wie schwierig es für uns wird. Ich kann seine “Anfälle“ nicht mehr so gut überspielen wie früher. Ich kann sein Verhalten nicht mehr kompensieren. Hinzu kommt, dass Evans Behinderung nicht sofort erkbennbar ist, er trägt kein klares Aushängeschild für seine Besonderheit. Wir werden mittlerweile immer schneller und auch härter verurteilt. Das kann mir doch egal sein? Ja, vielleicht aber so einfach ist es leider nicht. Wenn man ständig unangenehm auffällt, ständig bösen Blicken und auch Kommentaren ausgesetzt ist, macht dieser Zustand etwas mit einem. Ich bin eine starke Löwenmama und habe ein dickes Fell aber auch das dickste Fell wird irgendwann spröde. Verlieht an Glanz. Meine Seele wird immer labiler, immer angreifbarer.

Zu dem Aspekt der Labilität gesellt sich aber auch noch ein anderer, die Einsamkeit. Die Ausgrenzung. Die Isolierung. Für mich, für mein gesundes Kind und auch für mein besonderes Kind. Ein kurzer Besuch in einer Eisdiele kann schon zu einer nicht endenden Anstrengung werden. Jetzt könnte man argumentieren, dass wir ja nicht in eine Eisdiele fahren müssen. Das mag vielleicht stimmen – obwohl ich auch ein Anrechtsgefühl auf Freizeit empfinde. Aber es gibt Dinge, die kann man nicht umgehen. Wir müssen einkaufen, zur Post, zum Arzt, zum Amt oder zur Apotheke. Ich könnte noch etliche Dinge aufzählen aber ich glaube Sie haben verstanden worum es mir geht. 

Oftmals macht es uns das Umfeld, die Gesellschaft schwer. Aber nicht immer. Oft sind die Begebenheiten gut, die Menschen verständnisvoll und trotzdem funktioniert es nicht, da Evan sich nicht den Umständen entsprechend verhalten will oder auch kann. Es gibt auch bei Inklusion Grenzen, an die Evan sich halten muss. Aber was macht man mit einem Kind, für den es sogar schwer ist, sich an diese Grenzen und Umstände zu halten? Evan bekommt viele Therapien, immer mit dem Blick in die “nicht-übertherapiert-werden-Richtung“. Schon lange habe ich über Medikamente nachgedacht. Immer mal wieder habe ich die Gedanken zugelassen. Am Anfang kurz und dann immer etwas länger bis ich zu dem Entschluss gekommen bin, es auszuprobieren. Ganz langsam, ganz behutsam und natürlich in genauer und überwachter Absprache mit Ärzten und Therapeuten. Mein Ziel ist dabei nicht, Evans Wesen zu verändern oder ihn ruhig zu stellen. Ich wünsche mir, dass seine Anfälle weniger werden. Die Spitzen etwas gekappt werden. Man kann es sich wie in einem Storm auf dem Meer vorstellen: Ich wünsche mir, dass seine Wellenspitzen etwas abflachen. Er etwas kompromissbereiter wird. Dabei geht es mir nicht darum, gut mit Evan in einer Eisdiele sitzen zu können. Nein, es geht darum den Tag zu überleben und den Alltag zu stemmen. Es uns beide etwas einfacher zu machen.

Evan ist ein geselliger kleiner Junge und möchte oft dabei sein. Er möchte Abenteuer erleben und an Aktivitäten teilhaben. Es schmerzt mich, zu sehen, wie er oft an einfachen Dingen scheitert und dann traurig und wütend wird. Wenn die Medikamente es ihn ermöglichen, ihn dabei unterstützen, an diesen Aktivitäten teilzuhaben, dann möchte ich es wenigstens versuchen. Für Evan. Für meinen kleinen Michel.

Ich hagere immer noch sehr mit dem Gedanken der Anpassung. Wie viel ist gut? Wie viel ist möglich? Ich bin kein Fan, kein Unterstützer (ja, sogar Gegner) von Umerziehung. Evan soll sich so entfalten können wie er möchte. Es liegt mir fern sein Wesen, seinen Charakter zu ändern, nur damit es uns ermöglicht, an gesellschaftlichen Begebenheiten teilzunehmen. Es ist mir egal, wenn wir aufallen, weil Evan wieder unsere Staubsauger zum Sparziergang mitgenommen hat oder er auf unserer Reserveklobürste, unbenutzt versteht sich, glücklich und unbeschwert die Vogelhochzeit trällert. Allerdings kann und möchte ich uns nicht isolieren.  Das Nötigste, das Wesentlichste, muss einfach funktionieren. Ich versuche schon so gut es eben geht, zu planen und zu organisieren. Immer mit den Gedanken bei Evan. Wie viel kann er ertragen. Allerdings gibt es oft Momente, die nicht planbar sind. Ich habe das Beitragsbild bewußt ausgewählt, weil es für mich, unser Leben, Evans Leben, sehr gut wiederspiegelt.

Wie viele Stufen muss, sollte, Evan von seinem eigenen kleinen Waldtürmchen der Welt entgegenkommen? Was geht und was geht nicht? Was ist zu viel und was ist möglich. Was ist vertretbar? 

Manchmal keimt der Rebell in mir auf und das Bild „Evan und ich gegen den Rest der Welt“ entfacht in meinen Gedanken. Dann wird die Anpassung klein und ich kämpfe barfuß und mit Staubsaugern und Klobürsten im Gepäck gegen die Welt und gegen die Anpassungen. Und dann gibt es die anderen Tage. Die Tage, an denen ich mir einfach etwas mehr Normalität und Anpassung wünsche. 

Mich macht es wütend und traurig, wenn Mitmenschen zu einfach, zu schnell, über die Thematik der Anpassung urteilen, ohne sich einen tiefgreifenden Einblick in die gesamte Situation zu machen. Es gibt mehr als nur schwarz oder nur weiß. Oftmals liegt die Wahrheit oder die Lösung irgendwo dazwischen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Eltern alle das Beste für unsere Kinder möchten und mir liegt es fern über andere Familien zu urteilen. Ich gebe mein Bestes und wenn ich mehr geben könnte, würde ich es tun.

Mein lieber Evan, wenn Du dies irgendwann lesen solltest, möchte ich, dass Du weißt, dass Deine Mama Dich so liebt wie Du bist. Du bist ein wundervoller, einzigartiger Mensch. Du bereichst mein Leben und ich werde Dich immer unterstützen und Dir zur Seite stehen. Auch mit spröden Löwenhaaren. In Liebe, Deine Mama

 

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