Autismus
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Mutter sein, Frau bleiben

Wenn ich Glück habe geht Evan um 19 Uhr schlafen. Wenn ich Pech habe, wird es 21 Uhr. Dann habe ich noch etwas Zeit für mich. Da ich am nächsten Morgen allerdings früh aufstehen muss, um zur Arbeit zu fahren, gehe ich meistens zeitig ins Bett. Wenn ich Glück habe kann ich durchschlafen oder werde nur 1 bis 2 Mal die Nacht „liebevoll wach gemacht“. Wenn ich Pech habe, ist meine Nacht gegen 3 Uhr erstmal zu Ende und ich kann ab 5 Uhr noch eine Stunde schlafen. Leider klingelt gegen 6 Uhr schon wieder mein Wecker. Ich benutze die Snoozle Funktion dann bis zum Äußersten aber irgendwann muss leider auch ich aufstehen und die Routine beginnt: mich fertig machen, Evan wecken & fertig machen. Evan wird gegen 07:00 (2x die Woche erst um 08:30 aufgrund seiner Schlafprobleme) von dem Bus der Lebenshilfe abgeholt. Danach schnell zur Arbeit fahren, immer die Zeit im Nacken, da ich pünktlich bei der Arbeit ankommen muss. Ansonsten schaffe ich meine Stunden nicht. Nach 5 Stunden bei der Arbeit, fahre ich schnell los, um wieder pünktlich zu Hause zu sein. Ein erneuter Blick auf die Uhr: 5 Minuten hänge ich meinem Zeitplan nach. Der Bus mit Evan steht schon vor der Tür und wartet – und das schon zum 2. Mal diese Woche! Oh nein, es tut mir leid. Schnell Evan aus dem Bus holen und dann in die Wohnung. Mittlerweile ist es 14:40. Jetzt haben wir noch knapp 20 Minuten und dann müssen wir schon wieder los. Wechselweise zur Autismus-, Ergo- oder Reittherapie. Dazu kommen noch die regelmäßigen Arzt- und Kardiologentermine. Wir sind dann meistens gegen 18 – 18:30 Uhr wieder zu Hause. Dann essen wir zusammen Abendbrot und danach fängt das „zu Bett gehen“ Ritual an. Das kann sich bis zu 3 Stunden in die Länge ziehen. Wenn Evan dann irgendwann eingeschlafen ist, habe ich noch 1 bis 2 Stunden für mich. Und dann fängt am nächsten Morgen bzw. schon in der Nacht das Ganze wieder von vorne an. Und täglich grüßt das Murmeltier…

An den täglichen Stress kann man sich gewöhnen. An den Schlafmangel allerdings nicht. Wenn es eine Nacht in der Woche betrifft ist es noch in Ordnung. Wenn es allerdings öfter ist, merke ich langsam wie mein Nervenkostüm immer und immer dünner wird. Ich mutiere dann langsam zu einem richtigen Monster, nicht nur innerlich sondern auch äußerlich. Irgendwann lassen sich die Augenringe nicht mehr überschminken und meine Körperhaltung ähnelt immer mehr der des Klöckners von Notre Dame. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann ich genauso laut, wenn nicht sogar lauter, schreien als Evan.

Der Tag hat nur 12 Stunden und ich habe nur 2 Hände, das habe ich irgendwann eingesehen. Ich kann das einfach nicht alleine schaffen. Das ist schlichtweg unmöglich. Evans Großeltern unterstützen uns wo sie nur können aber Evan wird im Alter nicht einfacher und im Krankheitsfall brauchte ich eine Lösung. Eine Freundin hat mir vom ambulanten Kinderhospizdienst berichtet. Anfangs war ich sehr skeptisch und mich hat das Wort Hospiz abgeschreckt, da es etwas Endgültiges und Trauriges mit sich brachte, was sich schlecht mit unserem Alltag und Leben in Verbindung bringen wollte. Evans Herzfehler ist lebensverkürzend, daher können wir den Hospizdienst in Anspruch nehmen. Allerdings habe ich schnell festgestellt, dass das Wort  Traurigkeit gar nicht zu dem ambulanten Dienst passt, da es um etwas ganz anderes geht, um liebevolle Unterstützung im Alltag. Schnell wurde jemand für Evan gefunden: Elisabeth. Elisabeth und Evan haben sehr schnell einen Zugang zueinander gefunden. Seit einigen Monaten kommt Elisabeth nun 1x die Woche zu uns. Zudem nehme ich den Verein Gemeinsam E.V. in Anspruch, den ich durch die zusätzlichen Betreuungskosten und die Verhinderungshilfe finanzieren kann. Dort hatten wir das Glück Evi kennengelernt zu haben, die uns ebenfalls 1x die Woche unterstützt.

Mutter sein und Frau bleiben. Darf man das überhaupt? Ich habe ein behindertes Kind und darf keine eigenen Bedürfnisse haben. Ich muss mich aufgeben und nur für mein Kind da sein. Es ist doch schließlich krank und braucht mich 24 Stunden, am Tag und in der Nacht. Heute weiß ich, dass das keine gesunde Einstellung war. Nur wenn ich glücklich bin, ist und kann Evan auch glücklich sein…. und ich war lange Zeit nicht glücklich. Ich habe nur unter Zeitdruck gelebt, immer mit einem Bein in der Luft und mit der Zeit im Nacken. Ich habe funktioniert und dabei das Wichtigste vergessen: Zu leben! Das geht vielleicht ein paar Monate gut, vielleicht auch Jahre aber irgendwann hat sich mein Inneres gemeldet. Ich liebe meinen Sohn über alles und er ist meine Priorität. Zudem arbeite ich auch gerne aber ich habe festgestellt, dass mir etwas fehlt. Ich bin Mutter und das bin ich gerne aber darüberhinaus bin ich auch eine eigenständige Person mit eigenen Interessen und Bedürfnissen. Das habe ich lange Zeit vernachlässigt bzw. verdrängt – mit Evan zusammen ich selber zu sein und zu bleiben.

Mittlerweile weiß ich, dass ein gutes Netzwerk zu haben, lebeInsta photo editor1447616323007nswichtig ist. Für mich bedeutet es ein Stück Freiheit. Durch die liebevolle Betreuung, kann ich 2 Nachmittage in der Woche frei entscheiden was ich mache. Ich kann meiner Leidenschaft, dem Reiten, nachgehen oder einfach mal in Ruhe einkaufen gehen – sogar in Ruhe in den Supermarkt zu gehen macht mir Spaß! Für viele ist das etwas selbstverständliches aber für mich ist es das nicht. Die anderen Leute müssen denken, dass ich spinne, wenn ich freudestrahlend durch den Supermarkt schlendere und das Einkaufen, wie andere Frauen einen Stadtbummel, zelebriere. An manchen Tagen klappt es besser und an anderen etwas schlechter. Natürlich schaue ich, wenn ich alleine unterwegs bin, sehr oft auf mein Handy und versichere mich, dass es Evan gut geht. Aber das ist in Ordnung. Mittlerweile gibt es aber auch die Tage, an denen ich nur 1x anrufe und die restliche Zeit richtig abschalten kann. Glauben Sie mir, das ist für mich ein riesen Fortschritt! Dank meiner Eltern kann ich am Wochenende auch mal ausgehen und eine Nacht durchschlafen.

Was für mich früher selbstverständlich war musste ich mit Evan wieder neu erlernen: Ich musste lernen, dass es okay ist, einige Stunden in der Woche nur für mich zu nutzen und währenddessen nicht über Therapien oder Anträge nachzudenken – und dafür bin ich unendlich dankbar!

„Keine Schuld ist dringender, als die, Dank zu sagen.“ Philosoph Cicero

 

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