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Ein Kind ohne Vorzeige-Behinderung

Ich glaube weder an Schubladen noch an Klassen. Aber manchmal lehrt einem das Leben etwas anderes. Was macht man, wenn man kein Kind mit einer Vorzeige-Behinderung hat? Was macht man, wenn das eigene Kind nicht von der beliebtesten Cheerleaderin zum Prom eingeladen wird oder kein Football Star ist, der am Ende des Spieles die Möglichkeit zu einem Touchdown erhält?

„Das ist aber eine niedliche Behinderung“ – Diesen Satz habe ich schon oft gehört. Glauben Sie nicht? Das kann ich mir vorstellen, aber es stimmt! Zwar nicht bei Evan aber bei anderen besonderen Kindern. Es scheint eine Klassengesellschaft der Behinderung zu geben. Die Behinderung oder besser gesagt die Behinderten scheinen in verschiedene Gruppen aufgeteilt zu sein. Die Gruppen, die ich bis jetzt entdeckt habe, sind: Die niedlichen Behinderten, die zutiefst mitleiderregenden Behinderten und die schrecklichen Behinderten zu der auch die Untergruppe „die sehen ja komplett gesund aus und sind nur falsch erzogen“ Behinderten gehören. Zu dieser Gruppe scheinen wir zu gehören. 

Es gibt behinderte Kinder und Jugendliche, die in Social Media Kanälen gefeiert werden, da sie ein gutes Beispiel für gelungene Integration und Inklusion sind. Meistens handelt es sich dabei um die „niedliche Behinderung“. Für diese Kinder gibt es eine Menge Freizeitangebote oder Veranstaltungen. Diese Kinder werden gerne in Kindergärten oder Schulen aufgenommen. Die Städte und politische Parteien loben und feiern sich beim Anschauen dieser Kanäle.

Ganz nach dem Motto: Barrierefrei in Stadt Mustermann! 

Und es gibt die Anderen. Die Kinder, die nicht im Internet zu sehen sind. Für die es keine Freizeitangebote oder Veranstaltungen noch Ferienprogramme gibt. Für die es wenig passende Kindergartenplätze oder geeignete Schulen gibt. Diese Kinder sieht man selten auf den Social Media Kanälen, da sie kein gutes Beispiel für gelungene Integration sind und sich dadurch nicht so gut im Internet präsentieren.

Es gibt Kinder, die eine unangenehme Behinderung haben. Eine Behinderung, die von der Politik oder Stadt und der Gesellschaft nicht so einfach „weggelacht“ werden kann. Eine Behinderung, die nicht in einem Slogan oder Werbespot passt. Eine Behinderung, die sich nicht so gut in Reportagen oder Dokumentationen verkaufen lässt. Kinder mit dieser Behinderung, kann man nicht einfach so, mal nebenbei, inkludieren oder integrieren. Kinder mit einer nicht so niedlichen Behinderung.

Mein kleiner Michel, Evan, ist so ein Kind. Das andere Kind. Ein Kind, welches meistens durch das Raster fällt. Ein Kind, das irgendwie nirgendwo so richtig dazugehört. Ein Kind, für das es fast bis gar keine Freizeitmöglichkeiten, Ferienprogramme oder Veranstaltungen gibt. Kein Beispiel-Kind für eine gelungene Inklusion und Integration. Kein Kind, welches in einer Dokumentation in die Kamera lacht und von seinen Fußballfreunden für das Tor in der letzten Minute bejubeld und gefeiert wird.

Für mich wäre es völlig okay, wenn Evan nicht dazu gehören möchte. Er muss keine sozialen Kontakte pflegen oder Veranstaltungen besuchen, wenn er es nicht möchte. Aber er möchte. Evan ist ein kleiner geselliger Junge, der gerne Abenteuer erlebt und überall mit mischen möchte. Was aber macht man, wenn er es nirgendwo so richtig kann? Wie geht man damit um?

Ehrlich gesagt, bricht es mir das Herz. Ich wünsche mir vom tiefsten Herzen, dass es Angebote, Möglichkeiten und Chancen für alle Kinder, Jugendliche und erwachsene Personen gibt. Egal ob mit Behinderung oder ohne. Egal ob mit einer Vorzeige-Behinderung oder einer nicht so „gesellschaftsfähigen“ Behinderung. Heutzutage darf es doch nicht mehr darum gehen, behinderten Menschen Mitleid entgegen zu bringen und sie nach guten und angemessen Maßstäben unterzubringen und zu beschäftigen. Es muss um die gleichberechtigte Teilhabe und Gleichberechtigung gehen. Es sollten nicht nur um die Möglichkeit der Sondereinrichtung gehen, sondern es muss möglich sein, ein Leben in Selbstbestimmung wählen zu können. Behinderte Menschen müssen wirklich integriert und nicht nur geduldet werden. Barrierfrei sollte kein besonderes Merkmal einer Stadt sein, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Zudem darf man sich nicht nur auf die guten, werbewirksamen Beispiele konzentrieren. Die Menschen, die gut in einem Slogan passen, sondern auch hinter den Vorhang schauen. Wirklich hinschauen. Mit Eltern, den „wirklichen“ Experten sprechen. Gemeinsam nach einer individuellen Lösung schauen, als nur in Schubladen oder Klassen zu denken. Ich weiß, dass es nicht mit einem Fingerschnipsen möglich ist. Dass es personelle und finanzielle Mittel und viel Zeit benötigt. Sowie die passenden Rahmenbedingungen. Aber ein offener Austausch und wirkliches Interesse an Lösungen wäre ein Anfang. Ich habe meine eigenen persönlichen Erfahrungen mit unserer Stadt gemacht und mir ist es wichtig, nicht alles schlecht reden zu wollen. Unsere Stadt hat Angebote für Menschen mit einer Behinderung aber leider nicht für alle. Für Kinder, wie Evan, die nicht in eine Formel oder eine Schublade passen, wird es schwierig. Was so viel bedeutet wie: es gibt nichts. Viele Gespräche verlaufen im Sande. Es wird nicht richtig zugehört. Außer ein freundliches Lächeln passiert nichts. Sätze wie:

„Frau Becker, denken Sie nicht, dass sie in einem Supermarkt sind und Auswahl haben. Wir suchen für sie aus.“

musste ich mir anhören. Das heißt so viel wie, wir essen jeden Tag nur noch Bohnen oder müssen hungern. Na, danke! Sozialträger, die über Evan entscheiden, ohne ihn je persönlich kennengelernt zu haben. All das sind Beispiele für eine nicht gelungene Integration. Es reicht nicht, dass es auf dem Papier Angebote für behinderte Menschen gibt, sie müssen auch in der Wirklichkeit, im echten Leben, durchsetztbar und realsierbar sein.

Trotzdem halte ich an den Glauben der Integration fest. Ich lasse ihn nicht los. Egal wie wenig ich in der Hand habe, ich lasse nicht los. Ich wünsche mir sehr, dass jeder Mensch, die Möglichkeit erhält, sich einzubringen. Eine faire Chance erhält, dass zu machen, was er möchte. Die Interessen zu verfolgen, die ihn/sie anregen und nicht durch irgendwelche Rahmenbedingungen daran gehindert werden. Ja, das ist eine Menge Arbeit. Aber es ist Zeit für Veränderung. Vielleicht noch nicht für die Großen aber zumindest für die Kleinen. Vielleicht auch erst für die ganz, ganz, kleinen Veränderungen. Aber egal wie klein und zaghaft die Veränderungen sind, es sind Veränderungen. Es ist ein Anfang.  

Mein lieber Evan, Du bist wundervoll wunderbar. Du bist geliebt, gewollt und genau richtig so wie Du bist. Bitte lass Dir nie, niemals, einreden, dass mit Dir etwas nicht stimmt. Du bist großartig perfekt so wie Du bist. Deine Mama. 

 

 

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