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Hauptsache gesund.

Blond oder dunkel? Junge oder Mädchen? Egal, Hauptsache gesund. Genau, Hauptsache gesund! Feindiagnostik, Fruchtwasseruntersuchungen, Bluttests – die Möglichkeiten ein gesundes Kind zu bekommen steigen. Hauptsache gesund. Eine Floskel. Eine Feststellung. Eine Selbstverständlichkeit. Wir leben in einem Optimierungszeitalter und einer Leistungsgesellschaft. Heutzutage ist das Streben nach dem Glück und nach dem Optimum allgegenwärtig. Wir optimieren unser Aussehen, unsere Beziehungen. Besuchen Seminare, um unser Leben zu optimieren. Es gibt etliche Anleitungen und Ratgeber für ein erfolgreiches, glückliches und unbeschwertes Leben (einige von Ihnen habe ich sogar zu Hause – allerdings noch ungelesen, vielleicht sollte ich das mal ändern).

Wusstest Du denn nicht vorher, dass Dein Sohn krank ist? Doch, das wusste ich. Hauptsache gesund? Hauptsache lebendig, war unsere Devise. Für mich gab es nie eine andere Alternative als mich bewusst für Evan zu entscheiden. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich mir vor 5 Jahren kein gesundes Kind gewünscht hätte. Damals hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass mein Kind nicht gesund sein könnte. Hauptsache gesund, das wird einem von klein auf mitgegeben, also warum sollte ich kein gesundes Kind bekommen? Hauptsache gesund. Woher kommt das? Natürlich wünscht sich jede Mutter und jeder Vater, dass es dem eigenen Kind gut geht und es keine körperlichen Schmerzen erleiden muss. Das waren auch meine Gedanken. Ich habe mir weniger Gedanken um Evans körperliche und geistige Einschränkungen gemacht als um die „Qualen“ der vielen Operationen und Behandlungen, die er in seinen ersten Lebenswochen über sich ergehen lassen musste. Aus Hauptsache gesund wurde in ein paar Minuten Hauptsache lebendig.

Körperliche Behinderung. Geistige Behinderung – für viele Menschen scheint es einen großen Unterschied bezüglich der Lebensqualität der Behinderungen zu geben. Ich habe es damals als sehr grenzwertig empfunden –  als müsse ich mich weniger auf mein Kind freuen, da das Statement „Hauptsache gesund“ in unserem Falle nicht mehr zutraf. Doch ich war (von Sorgen besorgt) überglücklich. Egal ob mit Behinderung oder ohne. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, mich auf mein „krankes Kind“ zu freuen. Mein geliebtes Kind was mir damals schon krank die Welt bedeutet hat. Eltern die kranke oder behinderte Kinder haben, freuen sich genauso an und über ihre Kinder. Ich bin weder ein Gutmensch noch möchte ich einen moralischen Zeigefinger hochhalten. Es ist keine selbstverständliche moralische Pflicht, ein voraussichtlich stark behindertes Kind zur Welt zu bringen und ich würde mir nie anmaßen darüber zu urteilen. Ich bin mir sehr sicher, dass es sich betroffene Eltern mit ihrer Entscheidung für oder gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft alles andere als leicht machen und jede Einzelentscheidung mit guten Gründen getroffen wird und ihre Berechtigung hat.

Allerdings ist es mir ist es eine Herzangelegenheit, dass die Behinderung eines Menschen nicht zum Maßstab für seinen Wert und seine Lebensqualität gemacht wird. Ist er denn überhaupt glücklich? Hat er ein lebenswertes Leben? Diese und ähnliche Fragen habe ich oft in der Vergangenheit gehört und ich werde immer mal wieder mit ihnen konfrontiert. Bedeutet eine Behinderung gleich, dass das Leben weniger fröhlich oder sogar weniger lebenswert ist? Ich habe den Eindruck, dass nur ein gesundes Leben für viele Menschen ein wirklich lebenswertes Leben ist. Schon vor der Geburt projiziert man oftmals seine eigene Wünsche und Erwartungen auf das Kind (ich zumindest habe das gemacht). Mit 6 Jahren spielt er bestimmt Fußball und sie geht zum Ballettunterricht. Mit 18 Jahren macht er und/oder sie Abitur. Danach wird studiert. Vorher vielleicht noch eine Weltreise gemacht. Erwartungen. Falls diese oder ähnliche durch eine Krankheit oder Behinderung nicht eintreffen, wird oft das lebenswerte Leben angezweifelt. Es beruht auf menschlicher Selbstüberschätzung, einige Leben als nicht lebenswert zu kennzeichnen. Dabei kann niemand vorhersagen, wie lebenswert ein Leben sein wird und niemand sollte sich anmaßen, darüber zu urteilen, wie lebenswert das Leben eines anderen Menschen sein wird, war oder ist. Ich persönlich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass meine Ungewissheit und Angst vor der (einer) Behinderung schlimmer, als das reale Leben mit einer Behinderung, ist. Zudem hat Gesundheit wenig mit Genetik zu tun. Auch Menschen mit einer Behinderung können gesund, krank, glücklich oder unglücklich sein – so wie alle Menschen. Krankheiten und Behinderungen gehören zu unserem Leben auf dieser Erde dazu. Ich muss damit rechnen, dass mein Kind früher oder später krank werden kann.

Warum haben wir eine solch große Angst vor einem behinderten Kind? „Hauptsache gesund“ ist ein so großer Teil unserer Gesellschaft geworden. Meiner Meinung nach ist der Gedanke der Inklusion noch nicht angekommen. Menschen mit und ohne Behinderung wissen nach wie vor zu wenig übereinander, es gibt einfach zu wenig Berührungspunkte. Ich bin mir sicher, dass der Wille zur inklusiven Gesellschaft da ist, es aber noch massiv an der Umsetzung und an der „richten Einstellung“ fehlt. Die Normen und Werte unserer heutigen Gesellschaft sind fast ausschließlich von nichtbehinderten Menschen geprägt und daher passiert es sehr schnell, dass wir uns über lebenswerte und nicht lebenswerte Leben die Köpfe zerbrechen. Nehmen wir einfach mal an, dass unsere Kultur (Werte und Normen) eine andere wäre und wir überzeugt wären, dass wir mit einem Kind mit Trisomie 21, genauso gut zurecht kommen würden, wie mit einem Kind, dass eine Brille benötigt. Für einige vielleicht ein seltsamer Vergleich aber mir gefällt diese Vorstellung und die Einstellung dahinter sehr. Das „Problem“ ist nicht die Behinderung sondern oftmals unsere Kultur.

Autismus kann man nicht (noch nicht) durch eine pränatale Diagnostik feststellen. Wenn dies in den ersten Wochen einer Schwangerschaft möglich wäre, wie hoch wären die Abtreibungszahlen? Eine Frage, die ich mir in letzter Zeit immer mal wieder stelle.

Ich habe in den letzten Jahren etwas sehr wichtiges und essentielles gelernt: Demut. Demut vor dem Leben. Was habe ich noch gelernt? Dass das Wort Demut das Wort Mut beinhaltet. Mut für das Leben. Manchmal wird aus Hauptsache gesund, Hauptsache lebendig. Aber für mich das Wichtigste: Hauptsache geliebt. 

 

 

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