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Glücklich trotz Behinderung?

Vorweg: Darf man diese Frage überhaupt stellen? Ich finde ja!

Glücklich trotz Behinderung? Diese Frage läuft mir in vielerlei Hinsicht in letzter Zeit über den Weg und beschäftigt mich sehr. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen der Ansicht sind, dass ich sehr unglücklich sein muss, da ich ein behindertes Kind habe. Du wirkst so glücklich. Bist Du wirklich glücklich? Du musst doch ziemlich unglücklich sein, oder? Diese Aussagen und Fragen bekomme ich häufig gestellt. Darüber hinaus wird Evan oft mit einem sehr mitleidigen Blick betrachtet, da dieses arme Kind eine so schlimmer Behinderung hat. Er kann doch gar nicht glücklich sein, der Kleine. Mich haben diese Fragen nicht mehr losgelassen. Stimmt es etwa was die anderen Leute sagen? Sind Evan und ich nicht glücklich? Können wir gar nicht wirklich glücklich sein? Aus diesen Gründen habe ich mich in den letzten Tagen sehr intensiv, ehrlich und offen mit diesen Fragen auseinander gesetzt. Ich habe versucht sie bis zum Grund, bis in die Tiefe, zu erörtern. Mit all ihren schönen und schrecklichen Seiten. Bei der Beantwortung kann ich ausschließlich von mir sprechen und weitestgehend von meinem Sohn.

Glücklich trotz Behinderung? Was bedeutet diese Frage eigentlich? Kann ich trotz einer Behinderung glücklich sein? Hängt das Glück von einer Behinderung/Nicht Behinderung ab? Können nur gesunde Menschen glücklich sein? Behinderung=Unglücklich / Gesund=Glücklich? Ist es wirklich so einfach? Kann man das Glück einfach in eine Formel packen? Heutzutage ist das Streben nach dem Glück und nach perfekten Momenten allgegenwärtig. Jeder kennt diese perfekten Momente, in denen einfach alles passt und sich gut anfühlt. Ein Augenblick, den man am liebsten gar nicht mehr loslassen möchte. Einmal keine Krisen oder Tiefpunkte zu erleben. Heutzutage ist es fast wie ein Trend. Bist Du glücklich? Ja, ich bin sehr glücklich. Oh, wie schön! Willkommen im Club. Im Club der Glücklichen!  Es gibt Anleitungen zum Glücklichsein. Ratgeber für ein glückliches und unbeschwertes Leben finden sich in den regelmäßig in den Bestsellerlisten. Aber kann man wirklich nur in den perfekten Momenten glücklich sein? Ich habe sehr ausgiebig im Internet recherchiert und nach einer Definition des Wortes Glückes gesucht. Zufriedenheit, innere Ausgeglichenheit und Wohlbefinden waren die Wörter, die mir am häufigsten über den Weg gelaufen sind. Aber das wichtigste Fazit, welches ich aus meiner Glücksrecherche gezogen habe, ist, dass das Glück ein rein subjektives wahrgenommenes Gefühl ist und es schier unmöglich ist, es als eine objektive Sache zu beschreiben. Was mich glücklich macht, kann für jemand anderen alles andere als Glück  bedeuten. Wenn Glück also ein rein individuelles Empfinden ist, ist es dann nicht anmaßend anzunehmen, dass Evan und ich nicht glücklich sind?

Leider kann ich Evan nicht direkt fragen: Sag mal, bist Du eigentlich glücklich? (ich stelle mir gerade bildlich vor wie ich Evan diese Frage stelle und er mich ganz verwirrt anschaut, um mir danach direkt den Vogel zu zeigen).  Aber ich glaube ich brauche ihn auch gar nicht zu fragen, um die Antwort zu wissen. Evan ist ein sehr glückliches Kind. Es gibt fast kein Bild, wenn er denn mal still sitzt, auf dem er nicht lacht. Manchmal sitzen wir im Auto und er fängt, ohne erdenklichen Grund, an zu lachen.

Das Glück kommt zu denen, die lachen. (Sprichwort aus Japan)

Auf Klobürsten und Bratpfannen seine Lieblingslieder zu spielen oder stundenlang vor der Waschmaschine zu sitzen – im Wechsel zu saugen – macht ihn sehr glücklich (demzufolge läuft bei uns den ganzen Tag entweder der Staubsauger oder die Waschmaschine, manchmal auch beides zusammen). Für mein Umfeld – manchmal sogar auch für mich – ist diese Vorstellung oft schwierig nachzuempfinden. Ich gehe sehr offen mit Evans Behinderung um und erzähle dementsprechend auch ehrlich was er den Tag über gemacht hat. Der arme Junge oder Mensch, das macht ihn doch nicht glücklich, sind häufige Antworten. Ich selber finde die Vorstellung, länger als 2 Minuten, vor meiner Waschmaschine zu sitzen oder Lieder auf der Klobürste zu spielen auch merkwürdig und mich macht es keinesfalls glücklich. Ich bin eher glücklich, wenn ich einen großen Bogen, um unsere Waschmaschine machen kann. Evan aber macht es glücklich. Evan weißt nicht um seine Behinderung – das ist zumindest mein Gefühl. Für ihn ist alles gut so wie es ist. Da bin ich mir sehr sicher. Natürlich gibt es Tage, an denen ist er mal etwas schlechter gelaunt und unglücklich aber das hat nichts mit seiner Behinderung zu tun. Ich glaube sogar, dass er eher die anderen Menschen und manchmal auch mich für behindert hält. So skurril und seltsam Evans Welt auch für Dritte erscheinen mag, es ist seine WELT und genau in dieser Welt ist er glücklich. Sehr sogar.

Aber auch eine andere Frage spuckte seitdem in meinem Kopf und ließ mich nicht mehr los: Wärst Du glücklicher, wenn Dein Sohn keine Behinderung hätte? Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht und mir diese Frage immer und immer wieder gestellt. Aber eigentlich wusste ich die Antwort schon vorher: Nein, das wäre ich nicht. Es würde vielleicht einiges – sogar sehr vieles/fast alles – einfacher machen aber ich wäre nicht glücklicher. Vielleicht wäre ich nicht so oft erschöpft oder erschlagen aber ich wäre nicht glücklicher. In meinem Leben vor Evan war ich glücklich, wenn ich erfolgreich im meinem Beruf war oder wenn ich mir ein schönes neues Kleid gekauft habe. Heute bin ich glücklich, wenn ich meine das Wort Mama gehört zu haben oder Evan mir tief in die Augen schaut. Ich möchte keines der beiden Glücksgefühle einer Gewichtung unterziehen.

Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.

Ich war damals auch nicht weniger glücklich, nur anders glücklich. Durch Evan habe ich gelernt was Demut vor dem Leben bedeutet und eine neue Sphäre des Glückes kennengelernt. Trotz aller Einschränkungen könnte ich mir mein Leben nicht mehr anders vorstellen. Nicht mehr ohne Evan. Nie wieder ohne Evan.

Wenn aber doch fast alles einfacher ohne diese Behinderung wäre, warum wäre ich dann nicht automatisch glücklicher? Ganz einfach: Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass der Kontrast den Wert des Lebens bestimmt und zwar in allem, was uns begegnet. Auch im Glück. Ganz besonders im Glück. Ich kann das Glücksgefühl mehr/anders schätzen, da ich im Gegenzug auch viele nicht so schöne und sehr unglückliche Momente erlebe. Mittlerweile bin ich glücklich, wenn ich die Möglichkeit habe, einmal in Ruhe einkaufen zu gehen. Lebensmittel versteht sich. Ich schlender durch den Supermarkt wie andere Frauen durch Shopping Malls. Ich vergleiche in aller Seelenruhe Produkte wie Zewa Tücher oder Bodenreiniger und freue mich des Lebens. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich stehe an einer langen Kassenschlange und erfreue mich an der bunten Vielfalt der Menschen. Die wiederum bestimmt denken müssen, dass ich auf Drogen bin, da ich nicht aufhören kann, zu grinsen. Ich habe durch Evans Behinderung gelernt viele Dinge neu schätzen zu lernen. Durch Evans Erkrankung habe ich wundervolle Begegnungen gemacht, einzigartige und ganz besondere Menschen kennengelernt, für die ich sehr dankbar bin. Ich hätte die Welt, auf der Musiklieder auf Klobürsten und Bratpfannen gespielt werden und es sogar noch gut klingt, nie kennengelernt.

Das Wichtigste was ich durch Evan gelernt habe ist, auch in den nicht perfekten Momenten glücklich zu sein. Und glauben Sie mir, davon gibt es reichlich viele in unserem Alltag. Ich laufe nicht nur grinsend durchs Leben. Ich bin oft, sehr oft sogar, verzweifelt und stoße an meine Belastungsgrenzen und bin psychisch und physisch erschöpft und warte sehnlichst auf mein Happy End des Tages. Aber es bleibt aus. Zumindest bis Evan schläft – an diesen bestimmten Tagen zumindest. Denn spätestens wenn ich abends in sein Zimmer gehe und sehe wie friedlich er schläft, erkenne ich mein ganz eigenes kleines Happy End. Wenn man ein schwer chronisch krankes Kind hat, gerät die Welt ins Wanken und man bekommt einen anderen Blickwinkel. So schwer und anstrengend der Tag auch gewesen sein mag, ich bin einfach dankbar, dass Evan noch am Leben ist und das es ihm gut geht. Ich habe im Laufe der Zeit schon einige liebe Eltern kennengelernt, die ihre Kinder verloren haben. Diese Bedrohung jeden Tag aufs Neue zu spüren ist einfach unbeschreiblich.

Ich habe mit der Zeit gelernt, Dinge und Gegebenheiten für den Moment so anzunehmen und dass Beste daraus zu machen – ich lerne übrigens immer noch. Wenn das Glück an manchen Tagen nicht zu mir kommt, komme ich halt zum Glück. Auf Umwegen. Aber ich komme und meistens komme ich auch an. Wenn ich mit Evan zu einem einsam gelegenen Spielplatz fahre – dafür nehme ich gerne 45 Minuten oder eine Stunde in ka20150502_152004uf – und ich dort mein Sushi und einen alkoholfreien Sekt aus der Dose genießen kann, bin ich glücklich. Wenn ich nach der Arbeit noch kurz mit Evan in unseren Lieblingsvergnügungspark fahre, in dem wir mittlerweile schon mit Namen begrüßt werden, sind wir sehr glücklich. Auch wenn sich die lange Anfahrtsstrecke für die Dauer der Zeit, die wir dort verbringen können, nicht lohnt. Wir machen es trotzdem. Das lohnt sich doch gar nicht sind Wörter, die ich aus unserem Vokabular gestrichen habe. Es macht uns glücklich, also lohnt es sich! 

Glücklich sein heißt nicht, das Beste von allem zu haben, sondern das Beste aus allem zu machen. 

Ich  wurde schon oft gefragt, ob ich mir nicht ein gesundes Kind wünschen würde. Ich kann diese Frage gar nicht beantworten. Natürlich würde ich mir wünschen, dass Evan gesund ist. Ganz besonders, vom ganzen Herzen, würde ich mir wünschen, dass sein halbes Herz zu einem Ganzen mutiert. Aber so ist es nun mal nicht und so wird es auch nie sein. Warum soll ich mir also darüber den Kopf zerbrechen. Und sich sein Kind anders vorzustellen? Das kann und will ich nicht! Evans Autismuserkrankung ist nicht nur eine Diagnose sondern es ist unser Leben und dafür bin ich unendlich dankbar. Evan. Mein kleines Happy End. Jeden Tag aufs Neue.

Wenn mich also jemand fragt: Glücklich trotz Behinderung?  würde ich antworten: Ja, sehr sogar – meistens zumindest. Das eine schließt das andere nicht aus, denn Glück kennt keine Behinderung. Bei uns zu Hause zumindest!

Wir machen uns die Welt, widde widde wie sie uns gefällt! (Pippi Langstrumpf 1949),
Evan & Marcella.

 

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