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Wie viel Anpassung ist gut und möglich?

Diese Frage stelle ich mir sehr oft. In wie weit muss oder sollte Evan an die Gesellschaft angepasst sein? Oder wie weit kann sich die Gesellschaft an Evan anpassen? Wie viel kann man Evan zumuten und wie viel der Gesellschaft? Müssen besondere Kinder gesellschaftskonform sein?

Als ich meinen Lebensweg mit Evan begann war es mir oft unangenehm immer die Lautesten zu sein und immer negativ aufzufallen. Oft habe ich mir gewünscht, nicht das lauteste Kind sondern das frechste oder das pummeligste Kind zu haben. Laut war mir einfach peinlich.
Wenn ein Kind in Evans Turngruppe oder auf dem Spielplatz weinte oder wieder etwas zu Bruch gegangen ist, habe ich gehofft und innerlich gebetet, dass es dieses Mal nicht Evan ist. Meistens war das aber leider nicht der Fall. Es gab Momente, da bin ich während Evans Turngruppe mehrmals auf die Toilette gegangen und habe die Gruppenleitung gefragt, ob sie kurz auf Evan aufpassen könnte, damit ich nur einen Moment Ruhe habe. Ich habe dann im Bad gesessen und habe die Stille genossen und für einen kurzen, sehr kurzen Moment, mal nicht verantwortlich zu sein. Die Gruppenleiterin muss gedacht haben, dass ich unter ständiger Blasenentzündung litt.

Es ist sehr schwierig fremden Leuten aber auch Freunden, manchmal sogar der eigenen Familie,  zu erklären, was der Alltag mit einem besonderen Kind bedeutet. Ich bekomme oft zu hören, dass Evan ja so normal aussieht und dass sich die vorübergehenden Schwächen schon wieder legen werden oder dass alle Kinder schwierig sind. Ich weiß, dass auch gesunde Kinder anstrengend sind und einen oft an den Rand der Verzweiflung bringen. Aber bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass man ein besonderes Kind NICHT mit einem gesunden Kind vergleichen kann. Ich passe oft auf die Kinder einer Freundin auf. Das ist auch anstrengend, aber einfach anders anstrengend. Mit Evan fühle ich mich oft so, als ob ich permanent mit einem Bein in der Luft stehe, immer Absprung bereit. Immer unter Strom und gewappnet für den nächsten Alltagskampf. Immer auf der Suche nach neuen „Alltagsproblemen“ und deren Lösungen. Wenn ich mit Evan unterwegs bin, gehe ich permanent im Kopf alle möglichen Gefahren ab und versuche viele davon zu umgehen. Das ist leider nicht immer möglich und so kommt es dazu, dass gewisse Situationen aufkommen, die für die Gesellschaft schwer nachzuvollziehen sind.

Evan mag es nicht, wenn Türen geöffnet sind, egal welche Tür und egal von wem. Er schließt alle offenen Türen. Gewisse Handlungen brauchen immer die gleichen Abläufe und Rituale. Egal ob wir zu Hause sind oder unterwegs. Evan interessiert es nicht, ob ich betroffen20151007_185453 bin oder jemand fremdes. Wenn Evan eine Gitarre sieht,  ist es ihm egal wem diese Gitarre gehört. In seiner Welt gehören ihm alle Gitarren. Ich versuche im Supermarkt daher immer die Kosmetikabteilung mit den Haarbürsten zu umgehen, da diese einer Gitarre stark ähneln. Nicht zu vergessen, die Klohbürsten! Wenn Evan auf dem Spielplatz ist und Kinder in einer bestimmten Reihenfolge rutschen, möchte Evan diese Reihenfolge beibehalten. Wenn diese Reihenfolge verändert wird, ärgert er sich nicht nur, sondern seine Welt ist dann nicht mehr in Ordnung. Lichtschalter müssen mindestens 2x angeschaltet und ausgeschaltet werden. Egal ob die Leute dann im Dunkeln sitzen oder nicht. Gegenstände mit Rädern gehören Evan. Egal ob aus Plastik, Holz oder auch aus Glas. Wasser kann Evan nicht umgehen. Er möchte schwimmen. Egal welches Wasser, egal zu welcher Jahreszeit oder in welcher Bekleidung. Pausen kennt Evan nicht. Er ist immer in Aktion und muss in Bewegung sein. Egal ob in der großen Sporthalle, im Bus oder in der Bahn. Sitzen bleiben macht für ihn einfach keinen Sinn. Süßigkeiten, Laugenbrezeln und Lollys gehören Evan. Egal ob im Regal oder in fremden Händen. In seiner Welt gehören sie ihm. Einkaufswagen oder Buggys müssen immer in einer bestimmten Reihenfolge geschoben werden und mit bestimmten Intervallen. In Evans Welt ist das einfach so. Wenn er Hunde sieht werden diese genauestens imitiert. Egal in welcher Richtung sie gerade unterwegs sind oder was sie wie und wo machen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt wie Evan seine Welt wahrnimmt und lebt. Diese Welt ist oftmals sehr schwer mit der wirklichen Welt in Einklang zu bringen. Es gibt Leute, denen macht es nichts, wenn Evan deren Autotür zum 3. Mal schließt. Es gibt Hundebesitzer, die einfach ein Stück in unsere Richtung mitlaufen oder uns sogar ganz bis zum Auto begleiten und es gibt Gitarrenspieler, die zum Glück eine Luftgitarre bei Ihren Auftritten dabei haben. Aber es gibt auch diejenigen, denen das Licht ausmachen schon zu viel ist. Es geht mir nicht darum, diese Leute zu verurteilen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen und vielleicht ist es an dem einen bestimmten Tag schon zu viel, wenn das Licht ausgeschaltet wird und man für einige Sekunden im Dunkeln sitzt. Ich will nur damit sagen, dass ich versuche so viele „Alltagsprobleme“ wie möglich zu umgehen, aber es bleiben immer noch etliche. Man kann nicht jeden Kampf gewinnen. Daher suche ich mir mittlerweile meine Kämpfe genau aus.

In Evans ehemaliger Sportgruppe hat eine Mutter mal zu mir gesagt, dass ich die Mütter von gesunden Kindern auch verstehen müsste. Mit den gesunden Kindern wird immer geschimpft und Evan macht manche Sachen einfach so. Liebe Sportmama, ich würde gerne tauschen und würde mir wünschen, wenn ich mit Evan schimpfen könnte und eine Reaktion erhalten würde. Nur leider versteht Evan manche Sachen einfach nicht. Es gibt Situationen, in denen bin ich sehr streng und ich kämpfe diesen Kampf bis zum bitteren Ende. Evan darf keine Kinder hauen oder beißen. Er darf auch nicht fremde Sachen kaputt machen oder einfach auf die Straße laufen oder von der Brücke in die Weser springen. Aber es gibt einfach Situationen, die finde ich MITTLERWEILE harmlos und schenke ihnen keine, oder nicht mehr soviel, Beachtung. Wenn ich jeden Kampf auf mich nehmen würde, könnte ich unser Haus nicht mehr verlassen.

Ich hatte vor längerer Zeit die Möglichkeit in einem Elternprogramm mitzumachen, in denen autistische Kinder an 6 Tagen die Woche für jeweils 5 Stunden an einem ABA  (Applied Behavior Analysis / Angewandte Verhaltensanalyse) Training teilnehmen. In diesem Training geht es darum autistischen Kindern bestimmte Verhaltensregeln beizubringen bzw. einzuflößen. Es ist eine klassische Form der Konditionierung von Verhalten. Diese wird oft bei frühkindlichen Autismus angewandt aber auch bei der modernen Abrichtung von Hunden und Zirkustieren genutzt. Nach vielen Recherchen und Berichten habe ich mich allerdings dagegen entschieden. Es gibt viele Leute, die die ABA Methode unterstützen und das muss auch jeder für sich selber entscheiden. Für mich ist ABA das Lernen vom absoluten Gehorsam ohne hinterfragen zu dürfen. Das Training hätte bestimmt einiges in unserem Leben und Alltag einfacher gemacht. Es hätte Evan ein wenig gesellschaftskonformer gemacht aber zu welchem Preis?

Ich möchte, dass Evan lernt sich an bestimmte Regeln zu halten, damit er im Alltag zurechtkommt aber ich möchte nicht seine Persönlichkeit ändern oder ihn dressieren wie er sich zu verhalten hat. Alles was er dann instinktiv, also von sich aus machen würde, wäre falsch. Der Autismus gehört zu Evan. Es ist sein/unser Leben und nicht nur eine Diagnose.

Es ist der Alltag, der mich und Evan immer wieder aufs Neue fordert. In einer Welt zu bestehen, die nicht autistengerecht ist. Wir sind  übrigens immer noch die Lautesten aber mittlerweile trage ich Kopfhörer.

Wir haben den scheinbar Nichtbehinderten klarzumachen, dass ihre Unfähigkeit, Behinderte als Gleiche zu begreifen, ihre eigene Behinderung ist. (Ernst Klee)

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