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Wenn Freundschaften zerbrechen.

Ich war ehrlich gesagt sehr überrascht, positiv überrascht, wie viel Resonanz und verschiedene Sichtweisen ich zu dem Thema „Soziales Leben mit einem behinderten Kind“ erhalten haben. Ein intaktes soziales Leben mit einem behinderten Kind zu führen, ist oft harte Arbeit. Manchmal sogar unmöglich. Es scheint nicht nur mir so zu gehen, sondern vielen anderen Familien ebenfalls. Diese Tatsache hat mich sehr berührt und zum Weiterdenken angeregt.

Ein Thema war dabei sehr dominant:  Der Abschied von Freunden und in manchen Fällen sogar von der eigenen Familie. Wie geht man damit um, wenn Freundschaften oder Familienkonstellationen aufgrund einer Behinderung zerbrechen?

Freundschaften kommen. Freundschaften gehen. Das ist ein ganz normaler Prozess. Darüber hinaus gibt es Freundschaften, die ein ganzes Leben halten. Aber es gibt auch Freundschaften, die aufgrund einer schweren Belastung wie einer Behinderung zerbrechen. Das habe ich des Öfteren schon am eigenen Leibe erfahren müssen. Ich habe gemerkt, wie Evan und ich gemieden wurden und der Kontakt immer weniger wurde. Es gibt Freundschaften, da ist es ein schleichender Prozess. Irgendwie wird der Kontakt immer weniger und es werden Ausflüchte genutzt, um sich nicht mit uns treffen zu müssen. Nach einiger Zeit bricht der Kontakt dann komplett ab und mir wird erst später bewusst was eigentlich passiert ist. Es gibt aber auch Freundschaften, die zerbrechen von heute auf morgen. Das war für mich immer besonders schlimm. Erst im Nachhinein kann ich sagen, warum diese oder andere Freundschaften zerbrochen sind.

Evan wird größer und damit seine Behinderung sichtbarer sowie im Alltag spürbarer. Situationen, die ich früher „weglächeln“ konnte, kann ich heute nicht mehr so einfach zur Seite schieben. Evans Behinderung nimmt einen immer größeren Platz in unserem Leben ein und damit auch unsere Einschränkungen und oder auch Besonderheiten, die diese Behinderung mit sich bringen. „Mal eben so“ oder „einfach mal kurz“ ist bei uns nicht möglich. Die Rahmenbedingungen müssen passen und diese bedeuten oft eine große Einschränkung wie die seltsamsten Uhrzeiten, Wutausbrüche und lauthalses Geschreie, die entlegensten Spielplätze, einzigartige Wegbegleiter wie Bratpfannen oder Staubsauger: diese sind die Gängigsten, der vielen noch nicht genannten Einschränkungen. Zudem bemerke ich immer mehr, wie anstrengend und kräftezerrend unser Leben sein kann. Ich bin schneller kaputt und habe am Abend oftmals nicht mehr die Kraft, aus dem Haus zu gehen und mich mit Freunden zu treffen. Es kommt immer häufiger vor, dass ich Verabredungen absagen muss, da ich es einfach nicht mehr schaffe. Alleine diese Tatsache kann manche Freundschaften beenden, da das Verständnis fehlt. Der Moment der Realisierung, dass mal wieder eine Freundschaft kaputtgegangen ist, hat mich jedes Mal aufs Neue sehr verletzt und mitgenommen. Für mich und für Evan. Zu der Enttäuschung gesinnte sich auch die Wut und der Ärger. Und dann? Dann kamen die Traurigkeit und die Frage nach dem Warum. Warum wir? Warum ich? Warum Evan? 

Ich glaube erst mit Abstand, diese Frage ehrlich beantworten zu können. Am Anfang standen mir die Gefühle im Wege aber nach einiger Zeit, manchmal auch Jahren, kann ich gewisse Situation anders betrachten. Es ist immer schmerzlich, wenn Freundschaften zerbrechen. Egal aus welchem Grund auch immer. Den Grund zu wissen, aber nichts an den Begebenheiten ändern zu können, war und ist für mich immer noch schwierig. Mit der Zeit hat sich meine Sichtweise allerdings verändert. Heute ist es für mich okay, wenn Freundschaften aufgrund von Evans Behinderung auseinandergehen. Es ist okay, wenn Menschen an Ihre eigenen Grenzen stoßen und uns zu verstehen geben, dass sie das so nicht mehr möchten. Jeder Mensch hat in seinem Leben sein eigenes Päckchen zu tragen und manchmal kann man das Paket eines anderen Menschen so nicht mehr mittragen bzw. ertragen. Ich versuche nicht mehr zu erwarten, dass jeder unser Paket aushalten kann und möchte.

Heutzutage suche ich mir meine Freundschaften und Bekanntschaften sorgfältiger aus. Ich könnte Evan natürlich zu Hause lassen und mich mit gewissen Freunden, einfach immer alleine treffen. Das habe ich früher so gemacht. Heute ist mir meine Zeit dafür zu schade und zu kostbar. Ich habe wirklich tolle Freunde, die so einiges mit mir und Evan aushalten. Die Evan als eine Bereicherung empfinden und sich gerne mit uns treffen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Ich frage heutzutage offener, ob es okay ist, gewisse Einschränkungen auszuhalten. Wenn es mal nicht geht, ist das in Ordnung. Ich bin dankbar für einen offenen Austausch. Ich kann nicht erwarten, dass meine Freunde immer bereit sind, alle Einschränkungen mitzutragen. Das ist okay für mich. Dafür müssen sie im Gegenzug ertragen, dass ich mich nur unter gewissen Bedingungen treffen kann. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Ein offener Austausch was gerade geht und was nicht geht.

Es gibt Menschen, die begleiten uns ein Stückchen mit auf unserem Lebensweg, um ihn dann auch wieder zu verlassen. Früher hat mir das immer sehr zu schaffen gemacht und ich habe an uns gezweifelt und mich in Frage gestellt. Kann oder muss ich etwas anders machen? Soll ich lachen obwohl mir zum Weinen zumute ist? Soll ich die Frage „Wie geht es Dir?“ ehrlich beantworten oder lieber vortäuschen, dass es mir gut geht. Es gibt Freunde oder Bekannte, die wollen keine ehrliche Antwort auf diese Frage hören. Vielleicht interessiert es sie nicht oder sie können mit der Antwort nicht umgehen. Durch unsere Lebensumstände bin ich oft kaputt, launisch, zickig, traurig, wütend oder müde. Ich möchte diese Gefühle nicht immer verstecken müssen und etwas vortäuschen was ich gerade nicht bin. Es gibt Menschen, die können und wollen das nicht mittragen und das ist okay. Ich kann und möchte auf der anderen Seite aber auch nicht, immer in Sorge leben müssen, mich anders zu geben wie ich es eigentlich bin oder gerade empfinde. 

Es wäre gelogen, wenn ich mir nicht innerlich wünschen würde, dass alle Mitmenschen und Freunde, Verständnis für uns und Evans Behinderung haben. Uns ständig mit offen Armen und Herzens empfangen. Es ist immer schmerzlich, wenn man Ablehnung im Alltag erfährt. Umso schmerzlicher ist es für mich, da es sich um meinen Sohn handelt. Ich glaube, dass verletzt jede Mutter oder Vater sehr. Ich kann die Gefühle wie Wut, Ärger, Enttäuschung, Trauer nicht gänzlich abschalten aber ich habe im Laufe der Zeit realisiert, dass es uns nicht weiterhilft. Ich möchte mich nicht mehr ärgern und wütend sein, weil sich Menschen von uns abgewendet haben. Dafür ist mir unser Leben zu kostbar geworden. Ich erfreue mich über die wundervollen Menschen, Bekannte und Freunde, die wir in unserem Leben haben und ich kann voller Freude sagen, dass der liebe Gott uns mit vielen bezaubernden und einzigartigen Menschen reicht beschenkt hat. Anstatt zu betrauern was wir verloren haben, versuche ich mich darauf zu konzentrieren, was wir in unserem Leben haben. Ärger und Wut haben mich im Laufe der Zeit selber nur launisch und traurig machen lassen. In vielen Situationen hat es mir geholfen, zu verzeihen und loszulassen.

Mich haben Eure Kommentare, Geschichten, Ansichten und Erfahrungen sehr nachdenklich und auch traurig gestimmt. Leider erfährt man heutzutage mit einer Behinderung noch so viel Ausgrenzung und Ablehnung im Leben. Ich habe keine allwissende Weisheit, noch möchte ich Euch mit guten Ratschlägen bewerfen. Jeder ist anders und empfindet ganz unterschiedlich. Ich persönlich habe gemerkt, dass es sich lohnt, sich auf das Gute im Leben zu konzentrieren und sich nicht von negativen Umständen regieren zu lassen. Das Leben ist schön und kostbar, egal wie schwer viele Situationen auch sein mögen. Ich versuche mir im Alltag viele kleine Inseln einzubauen und tanke so wieder Kraft. Zudem habe ich mittlerweile sehr viele Freunde gefunden, die auch ein behindertes Kind haben. Mir persönlich tut der Austausch sehr gut. Evan, sein kleiner Bruder ich und lieben das Leben mit all seinen Facetten.   

Ich wünsche Euch allen, wunderbare Menschen an Eurer Seite und viele kleine oder größere Inseln des Alltages.

 

 

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