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Hallo Angst, ich heiße Dich willkommen!

Es ist früh am Morgen und ich höre ein Klopfen. Erst ganz leise und dann wird es immer lauter. Ich versuche wegzuhören aber ich schaffe es nicht. Ich drehe mich um und versuche wieder einzuschlafen. Klopf. Klopf. Man kann es nicht ignorieren. So gut ich es auch versuche, ein Klopfen bleibt ein Klopfen. Ich stehe auf und gehe langsam zur Tür. Immer noch in der Hoffnung, dass ich mich verhöre aber das Klopfen wird lauter. Ich mache die Tür auf und die „Angst“ begrüßt mich freudestrahlend. Ohne mich zu fragen, stürmt sie herein und macht es sich direkt auf meinem Sessel in der Küche gemütlich. Sie fragt gar nicht erst, ob sie einen Kaffee darf, sie macht sich ihn direkt selber. Ganz selbstverständlich sitzt sie da und trinkt genüsslich ihren Kaffee. Ich setze mich dazu und höre zu wie sie erzählt. Ich komme gar nicht erst zu Wort. Ich werde nichts gefragt. Sofort wird mir bewußt – so schnell werde ich sie nicht wieder los.  

Evans Herzfehler rückt durch seine andere Besonderheit sehr oft in den Hintergrund. Manchmal vergesse ich seinen Herzfehler in unserem Alltag sogar. Aber nur manchmal. Denn es gibt auch diese anderen Tage. Tage, an denen die Angst und die Sorgen zurückkehren. Leise an die Tür klopfen. Ganz bedacht und zurückhaltend – denkt man. Denn in der Wirklichkeit ist die Zurückhaltung eher Schein. Das leise Klopfen eher scheinheilig. Durch ihr zurückhaltendes aber aufdringliches Klopfen gewähren sich die Angst und die Sorge eintritt. Sie sitzen auf meinen Schultern und verweilen dort. Egal wie sehr ich mich wehre, sie bleiben da. Sie nisten sich ein. Sie machen es sich gemütlich.

Ein kleines Husten, ein leichter Schnupfen und schon sind sie da. Die Angst und die Sorgen. Von jetzt auf gleich wird mir wieder bewusst, dass Evan nur mit einem halben Herzen lebt. Auf einmal fallen mir seine blauen Lippen und seine blauen Fingernägel auf. Er sieht blass aus. Ist er vielleicht krank? Geht es ihm gut? Was macht sein Herz? Das Gedankenkarusell fängt an sich zu drehen. Ich bin Fahrgast, ohne dass ich es wollte. Ich habe weder bezahlt noch habe ich mich angestellt aber ich bin mitten auf dem Karussell und kann nicht absteigen. Runde um Runde dreht es sich weiter. Umso mehr ich versuche die Angst und die Sorgen wegzudrängen, umso gemütlicher machen sie es sich auf meinen Schultern.

Er isst zu viel Schokolade – er muss sich gesünder ernähren. Er will seine Jacke nicht anziehen – er wird sich erkälten. Der Weg ist zu weit – das schafft sein Herz nicht. Er bewegt sich zu viel – er übernimmt sich. Er hustet – er darf keine Lungenentzündung bekommen. Er hat nicht gut geschlafen – das wird zu anstrengend für ihn. Es regnet – er wird sicherlich frieren. 

Evan lebt mit einem halben Herzen. Ein halbes Herz für ein ganzes Leben. Passt das? Hält sein halbes Herz ein ganzes Leben? Diese Fragen, versuche ich zu verdrängen. Ich möchte ihnen keinen Platz in meinem, unserem Leben, geben. Aber sie kommen immer mal wieder auf. Dann schaue ich mir Evan an und habe große Angst. Dann mache ich mir Sorgen und schon klopft es an der Tür. Immer und immer wieder. Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss öffnen. Schon drängen sich die Angst und die Sorge an mir vorbei und gehen schnurstracks in die Küche, direkt auf den Sessel. Direkt mit einem Kaffee.

Ein Kind mit einer lebensverkürzenden chronischen Erkrankung zu haben, beeinträchtigt das eigene Leben in allen Bereichen. Heutzutage ist die Medizin zum Glück schon so weit, dass Evans Herzfehler sehr gut zu behandeln und die Lebenserwartung enorm gestiegen ist aber ein halbes Herz bleibt ein halbes Herz. Egal wie man es betrachtet. Ich versuche alles, wirklich alles, dass Evan sich gut entwickelt. Ich möchte ihm alles mit auf dem Weg geben was er körperlich benötigt, um sich gut zu entwickeln. Und glauben Sie mir, das ist nicht immer einfach mit Evan. Gesundes Essen ist schon eine enorme Herausforderung. Ganz zu schweigen von Zahnarzt- und Arztbesuchen. Es ist einfach furchtbar, immer mit diesen Sorgen und Ängsten zu leben. Egal ob es eine kleine Erkältung oder ein leichter Husten ist, sofort sorge ich mich um Evans Leben. Sofort male ich mir das Schlimmste aus und der Herzfehler kommt mir vor wie ein riesengroßer Fels. Die Bedrohung ist überall zu spüren. Aus der coolen Löwenmutter wird ein ängstliches Häschen.

Sich zu verkriechen, das habe ich lange Zeit gemacht. Ich habe den Ängsten und Sorgen durch meine Verdrängungstrategie immer größeren Raum gegeben. Umso mehr ich diese verdrängt habe, umso größer und schrecklicher wurden sie. Es wurde so schlimm, dass ich eine Zeit lang nicht mehr schlafen gehen wollte. Denn am Abend und in der Nacht wurden meine Dämonen am Größten. Dann sind sie über sich hinaus gewachsen und ich konnte ihnen nicht mehr entgegentreten. Ohne ein Hörbuch und einen Film (ohne Ton) konnte ich sehr lange nicht in den Schlaf finden. Sobald ich die Augen zugemacht habe, saß ich auf dem Karussel und konnte nicht mehr absteigen.

Ich wünsche mir von Herzen, dass Evan gesund ist und bleibt. Ich wünsche mir, dass sein halbes Herz ein Leben lang ausreicht. All diese Dinge wünsche ich Evan aber ich kann sie nicht beeinflussen. Es liegt nicht in meiner Hand. Ich kann nur auf Gott vertrauen und diese Wünsche immer und immer wieder in mein Gebet mit einschließen. Was ich allerdings beeinflussen kann, ist mein Handeln und mein Denken. Anstatt das Klopfen zu ignorieren, kann ich der Angst und der Sorge entgegentreten. Mittlerweile kann ich Ihnen die Tür aufmachen und sie begrüßen. „Hallo! Schön, dass ihr mal wieder vorbeikommt.“ Ich kann sie in die Küche bitten und Ihnen einen Kaffee anbieten. Umso ehrlicher ich ihnen entgegen trete, umso schneller sind sie wieder weg. Ich kann die Unterhaltung leiten und lenken und nicht andersherum. Natürlich gibt es auch noch die anderen Tage. Tage, an denen ich sie nicht freundlich begrüßen möchte und sie mir wieder so unendlich groß erscheinen und mich zu erdrücken versuchen. Aber ich lerne dazu. Ganz langsam. Ganz behutsam. Aber ich lerne. Ich versuche mich nicht mehr, von meinen Ängsten und Sorgen beherrschen zu lassen. Mittlerweile benötige ich nur noch ein Hörbuch. Manchmal geht es sogar ohne.

Evans Herzfehler gehört zu seinem und damit auch unserem Leben. Er ist ein Teil von ihm, von uns. Ich möchte, dass Evan ganz selbstsicher groß und erwachsen wird ohne von Ängsten und Sorgen geplagt zu sein. Ich möchte, dass er sich Dinge zutraut und keine Angst vor dem Leben und seinem Herzen hat. Ob ein halbes Herz für ein ganzes Leben reicht, diese Frage vermag ich nicht zu beantworten. Evan lebt jetzt, heute, was die Zukunft bringt, das wissen wir nicht. Das wissen wir weder für Evan noch für mich. Das können wir nicht beeinflussen. Aber das Heute, das Jetzt, das können wir beeinflussen. Wir erleben Abenteuer und wir umarmen das Leben. Wir tanzen im Regen und springen in Pfützen – auch mit der Gefahr einer Erkältung. Wir heißen das Leben mit all seinen Facetten willkommen! Jeden Tag aufs Neue.

 

 

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